Dr. Rudolf Matzka, im März 2007
Bei Brodbeck (Buddhismus interkulturell gelesen, S.
35) findet man die bemerkenswerte Aussage, dass der Denkhorizont der
abendländischen Philosophie aus buddhistischer Sicht bereits Ausdruck einer
Trübung des Bewusstseins ist. Dieser Denkhorizont bestimmt sich so, dass ein
irgendwie geartetes Subjekt ein irgendwie geartetes Sein zum Gegenstand der
Reflexion oder auch der Manipulation hat. Der Dualismus von Subjekt und Sein
bestimmt den abendländischen Denkhorizont, und damit die Struktur der
Bewusstseinstrübung. Das ist mein Ausgangspunkt, und mein Vorhaben ist, die
abendländische Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Naturwissenschaft,
insbesondere die Physik, unter diesem Aspekt neu zu durchdenken.
Die Verwendung von Sprache spielt bei der Erzeugung
und Aufrechterhaltung des Subjekt-Sein-Dualismus eine tragende Rolle. Die
Elemente der Sprache können (vermeintlich) auf Bestandteile des Seins
referieren. Dieses Referieren ist eine wichtige Funktion der Sprache. Und es
ist genau diese Sprachfunktion, welche den Subjekt-Sein-Dualismus erzeugt. Das
Referieren etabliert eine Relation zwischen Sprache und Sein, und es setzt ein
Subjekt voraus, welches Sprache in dieser Weise gebraucht.
Der buddhistische Ausweg aus der Falle des
Dualismus nutzt zwei verschiedene Wege zur Destruktion des dualistischen
Gebrauchs von Sprache: einen argumentativen und einen performativen.
Die buddhistische Philosophie ist für den
argumentativen Weg zuständig. Sie führt alle Arten von dualistischem
Sprachgebrauch ad absurdum. Dazu gehört die kritische Dialektik das Madhyamika
(Nagarjuna, Buddhapalita etc.) und die Apoha-Theorie der Sprachbedeutung
(Dignaga, Dharmakirti). Kritisiert werden nicht-buddhistische und buddhistische
philosophische Systeme, aber auch die ganz alltäglichen Illusionen der
Eigenexistenz von Dingen und von Abstrakta.
Der performative Weg nutzt die meditativen Übungen.
Die Übung, also die ständige Wiederholung, spielt dabei eine entscheidende
Rolle. Durch das Setzen neuer Gewohnheiten werden alte Gewohnheiten gebrochen.
Die Übung des Vipassana z.B. setzt die Gewohnheit, aufkommenden Gedanken als
Gedanken zur Kenntnis zu nehmen und mit der Aufmerksamkeit bei dem zu bleiben,
was gerade jetzt geschieht. Dadurch wird die Gewohnheit gebrochen, aufkommenden
Gedanken mit der Aufmerksamkeit inhaltlich zu folgen. So entsteht eine Stille, ein
Raum, in dem die Aufmerksamkeit sich allmählich schärft und vielerlei
Einsichten möglich werden. So löst sich das Erkennen allmählich von den Fesseln
der Sprache. Im sprachfreien Erkennen ist das Erkennen nicht vom Erkannten
getrennt, und ein Ich, das vom Erkennen und vom Erkannten getrennt wäre, ist
nicht länger auszumachen.
Das Ziel solcher Übung ist jedoch nicht die Stille,
sondern es geht darum, neue performative Freiheitsgrade zu gewinnen. Ist eine
Gewohnheit gebrochen, so entsteht an ihrer Stelle die Freiheit, bestimmte
Entscheidungen immer wieder neu und bewusst zu treffen. Die Übung des Vipassana
z.B. erzeugt die Freiheit, für jeden aufkommenden Gedanken frei zu
entscheiden, ob man ihm folgen möchte oder nicht. Dadurch gewinnt das Denken,
auch so weit es sprachgebunden ist, eine neue Qualität.
Meine Frage dazu ist nun, ob und inwieweit der
buddhistische Ausweg aus dem Dualismus eine gesellschaftliche Dimension hat
bzw. in eine gesellschaftliche Richtung entwickelt werden kann. Während der
argumentative Weg per se einen gesellschaftlichen Aspekt hat – die kritisierten
philosophischen Systeme sind ja Gegenstände öffentlicher Diskussion – ist der
performative Weg zunächst nur dem Individuum zugänglich. Die meditativen
Praktiken sind in erster Linie Praktiken für das Individuum, obwohl es
natürlich auch Gruppenpraktiken gibt, Rituale, wie sie v.a. in der tantrischen
Variante des Buddhismus stark ausgeprägt sind.
Weiter ist dabei zu bedenken, dass der
argumentative Weg nur negativ oder destruktiv arbeitet, während der
performative Weg durchaus neue Wege eröffnet und insofern positiv und kreativ
arbeitet. Dabei sind allerdings die neuen Wege von der buddhistischen Lehre her
nicht bestimmt, sie müssen vom Individuum in seiner konkreten Situation immer wieder
neu gefunden werden. Die Praktiken eröffnen lediglich die Freiheit oder den
Spielraum, in dem das Neue Platz hat.
Die einzige positive Bestimmung für das Handeln,
die sich im Buddhismus findet, ist eine Motivation des Mitgefühls. Dies aber
nicht als künstliche Norm, sondern diese Motivation findet sich mit dem
Fortschreiten der Praxis als die natürliche Ausstrahlung unseres Geistes, die
in dem Maße immer deutlicher wird, als die dualistischen Täuschungen wegfallen.
Mein Anliegen versteht sich im Kontext des
argumentativen Auswegs aus dem Dualismus. Mein Anliegen ist, die spezifischen
Täuschungen einsichtig zu machen, welche die Physik dem abendländischen
Bewusstsein einprägt. Dieses Anlegen ist unter praktischen Gesichtspunkten
zunächst nur negativer Natur, es sagt uns nicht, wie es denn mit der Physik
weitergehen könne.
Um in dieser Richtung weiter zu kommen, muss man
sich mit dem performativen Weg beschäftigen. Ein erster Schritt dazu kann sein,
die performativen Auswirkungen der dualistischen Täuschungen zu untersuchen.
Also die Frage: Welche Auswirkungen hat die dualistische Bewusstseinstrübung
auf das Tun der Physiker? Auf dieser Ebene könnte man sich dann eine
Veränderung des Handelns der Physiker immerhin vorstellen, einen
dementsprechenden Wunsch der Physiker natürlich vorausgesetzt.
Woher könnte solch ein Wunsch kommen? In der
buddhistischen Tradition ist es das Leiden, welches die stärkste Triebkraft für
die Verfolgung des Befreiungswegs darstellt. Nun trifft aber das von der Physik
verursachte Leiden keineswegs in erster Linie die Physik oder die Physiker.
Eine weitere Triebkraft ist die Sehnsucht nach Wahrheit, und diese teilt der
Buddhismus mit der Physik. Diese Triebkraft könnte durch eine Einsicht in den
Täuschungscharakter physikalischer Theorieelemente durchaus möglicherweise für
performative Veränderungen des physikalischen Handelns aktiviert werden.
Die Physik interessiert mich nicht nur deshalb in
besonderem Maße, weil sie die wichtigste unter allen Wissenschaften ist,
sondern auch deshalb, weil in ihr sich der Dualismus von Subjekt und Sein auf
eine besonders prägnante Weise ausdrückt. Nämlich so, dass ihr Theoriekern in
einem Fragment der Umgangssprache formuliert werden kann (oder muss), in dem
alle Sprachelemente eliminiert sind, die nicht unmittelbar oder mittelbar dem
Referieren auf der Sprache Äußerliches dienen. Dieses Fragment der
Umgangssprache ist die Sprache der Mathematik.
Wir reflektieren auf die Sprache der Mathematik,
indem wir die Umgangssprache als Metasprache benutzen. Da die Umgangssprache
viel reicher ist als die Sprache der Mathematik, gewinnen wir einen Spielraum,
in dem wir zur Sprache der Mathematik auf Distanz gehen können. Würde man statt
dessen zur Umgangssprache auf Distanz gehen wollen, so bestünde ein ähnlicher
Spielraum nur im Rahmen der Meditation, denn zur Umgangssprache gibt es keine
Metasprache.
Die reduzierte Sprache der Mathematik erzeugt eine
besonders scharfe Trennung von Subjekt und Sein, und da sie vollständig
regeldefiniert ist, ist ihre Struktur der wissenschaftstheoretischen Reflexion
außerordentlich gut zugänglich. Die Struktur der abendländischen
Bewusstseinstrübung ist in der Physik besonders scharf ausgeprägt und lässt
sich an diesem Beispiel besonders präzise analysieren.
Eine der Sprachfunktionen, die der Sprache der
Mathematik fehlen, ist das Reflektieren. Dies hat unmittelbar zur Folge, dass
das Verhältnis von Subjekt und Sein in der Physik eine strikte Disjunktion ist.
Das Sein hat keine subjektiven Aspekte, und das Subjekt hat keine Seinsaspekte.
Da das Subjekt nicht zum Sein gehört, betrachtet es das Sein von außen.
Der Sprache der Mathematik fehlen auch alle
kommunikativen Funktionen. Dies hat unmittelbar zur Folge, dass es innerhalb
des Subjektiven keine Differenzen geben kann. Es kann für die Physik nur ein
Subjekt geben, alle individuelle Subjektivität geht in diesem einen Subjekt
auf. Kant hat es das transzendentale Subjekt genannt, in den Physikbüchern
erscheint es als „wir“.
Alle mathematisch beschriebenen Strukturen sind
statisch, d.h. sie bleiben ein für alle mal so wie sie sind, sie sind jeder
Zeitlichkeit enthoben. Das wird besonders deutlich in der Arbeitsteilung
zwischen Mathematik und Empirie, welche durch die Formalisierung der mathematischen
Sprache möglich geworden ist. Auf dem Boden der mathematischen Sprache ist ein
logisches Regelsystem für das Schließen errichtet. Eine mathematische Struktur
wird nun dadurch etabliert, dass eine endliche Anzahl von Aussagen als Axiome,
d.h. als mögliche Anfänge von Ketten logischer Schlüsse, gesetzt werden. Die
Auswahl der Axiome spiegelt die Auffassung der Empirie von der inhaltlichen
Struktur des jeweils betrachteten Systems wieder. Diese Axiome können natürlich
im Verlauf der empirischen Arbeit geändert werden. Aber nur wenn und so lange
die Axiome fixiert sind, kann der mathematische Schlussmechanismus seine Arbeit
aufnehmen, nur dann haben mathematische Folgerungen Gültigkeit. Die
Zeitlosigkeit mathematischer Strukturen gehört wesentlich zur Funktionsweise
der Mathematik.
Die Axiome ändern sich dann, wenn die Auffassung
der Empiriker über die inhaltlichen Zusammenhänge sich ändert. Das gehört zur
normalen wissenschaftlichen Arbeit, dennoch ist das erklärte Ziel der Physiker
eine endgültige Theorie („Theory of Everything“), die dann nicht mehr geändert
werden muss. Eine Theorieänderung wird immer als Korrektur einer bis dahin
falschen Theorie verstanden. Das Ziel ist die einzig wahre Theorie. Die
Konstanz der theoretischen Struktur ist daher nicht nur eine Bedingung für die
mathematische Bearbeitbarkeit, sondern sie spiegelt auch die finale Intention
der empirischen Arbeit wieder.
Die dualistische Bewusstseinstrübung des
Abendlandes, der metaphysische Rahmen des abendländischen Denkens, nimmt in der
Physik eine besonders pointierte Gestalt an: Ein einziges in sich
undifferenziertes und dem Sein nicht zugehöriges Subjekt betrachtet von außen
ein Sein, das frei von Subjektivität und jeder Zeitlichkeit enthoben ist.
Als nächstes wird zu zeigen sein, wie der basale
Dualismus von Subjekt und Sein sich in der physikalischen Begrifflichkeit als
eine Sequenz von kategorialen Dualismen immer wieder wiederholt.
Dieser metaphysische Rahmen der Physik ist in der
Grammatik der mathematischen Sprache verankert und ist daher im Rahmen der
Physik unhintergehbar. Er steht indessen zur tatsächlichen physikalischen
Arbeit in einem gewissen Spannungsverhältnis. Die strikte Trennung von Subjekt
und Sein kann an einer Stelle nicht streng aufrechterhalten werden, nämlich da,
wo Subjekt und Sein sich begegnen, also in der Beobachtung oder in der Messung
oder im Experiment. Als Oberbegriff für diese drei will ich den Ausdruck
„empirisches Ereignis“ verwenden.
Die Spaltung in Subjekt und Sein vorausgesetzt, hat
jedes empirische Ereignis eine subjektive Seite und eine Seinsseite. Das
Subjekt gewinnt dabei eine Information über das Sein. Dies geschieht immer hier
und jetzt. Die Interaktion geschieht über die Sinne, und das sind stets die
Sinne eines körperlichen, also individuellen Subjekts, und dieses befindet sich
mit seinem Körper an einem bestimmten Ort und an einer bestimmten Zeit im Sein.
Der erste Schritt im Aufbau einer physikalischen Begrifflichkeit muss also
sein, ein Raster zu erzeugen, ein raum-zeitliches Koordinatensystem, in dem das
Hier-Und-Jetzt jedes einzelnen empirischen Ereignisses verortet werden kann.
Gelingt dies, so kann das transzendentale Subjekt seine körperliche Präsenz in
dieses Kontinuum hinein projizieren und kann sich im übrigen auf seinen
transzendentalen Nicht-Ort zurückziehen.
Man kann den Beginn des Aufbaus der physikalischen
Begrifflichkeit so verstehen, dass hier das Subjekt die metaphysische Dualität
von Subjekt und Sein in das Sein hinein abbildet. Damit wird ein Rahmen
geschaffen, eine Bühne, auf der das physikalische Sein sich abspielt. Der
Dualismus von Subjekt und Sein erfährt damit eine erste Wiederholung, als
Dualismus zwischen einem raum-zeitlichen Rahmen und einem sich darin abspielenden
physikalischen Inhalt.
Das Spannungsverhältnis zwischen metaphysischem
Rahmen und tatsächlicher empirischer Arbeit zeigt sich auch in dem Gegensatz
zwischen der Vielheit der empirischen Ereignisse und der Einheit des
transzendentalen Subjekts. Die empirischen Ereignisse müssen untereinander in
ein Verhältnis gesetzt werden können, auch auf ihrer subjektiven Seite. Es
macht einen Unterschied, ob ich ein Element des Seins von diesem oder von jenem
Ort im Sein aus betrachte. Da aber jedes Element des Seins eine objektive
Identität behalten muss, bedarf es einer Transformationsregel für die Bedeutung
der gewonnenen Information beim Übergang von einem zum anderen Ort, an dem
Subjektivität sich im Sein manifestieren kann.
Der Rahmen für den physikalischen Inhalt ist also
selbst dual strukturiert, er besteht aus einem Raster, an dessen Rasterpunkten
die Interaktionen zwischen Subjekt und Sein lokalisiert sind, und einer
Transformationsregel, welche die Bedeutungsrelationen zwischen den
verschiedenen Erscheinungsorten der Subjektivität regelt. Der erste und sehr
erfolgreiche Versuch einer solchen Rahmenstruktur war die vierdimensionale
euklidische Geometrie als räumliches Raster und die Galilei-Transformation als
Regel der Bedeutungstransformation.
Ein dritter Punkt, an dem das Spannungsverhältnis
zwischen dem metaphysischen Rahmen und der empirischen Arbeit auftritt, ist die
Zeitlosigkeit der Strukturen des Seins. Es braucht daher eine Struktur, welche
es erlaubt, Veränderlichkeit zu simulieren. Dies wird durch die
Galilei-Transformation gleich mit erledigt, da sie die Zeit-Dimension, im
Unterschied zu den Raumdimensionen, unberührt lässt. Das Raster erhält damit
selbst eine duale Struktur, eine asymmetrische Aufteilung in eine universell
gültige Zeitdimension und drei Raumdimensionen. Die metaphysische Dualität von
Subjekt und Sein wiederholt sich hier abermals, als Dualität zwischen Einheit
und Vielheit, zwischen einer absoluten Zeitdimension als Simulator der
Veränderlichkeit und drei relativen Raumdimensionen.
Vor dem Hintergrund dieser reichhaltigen
Rahmenstruktur wird der physikalische Inhalt der klassischen Mechanik durch das
Kategorienpaar Kraft/Masse strukturiert. Auch diese Dualität lässt sich
unschwer als eine Wiederholung der Subjekt-Sein-Dualität erkennen. Kraft ist
ein aktiver und relationaler Begriff, während Masse ein passiver und statischer
Begriff ist.
Die physikalischen Revolutionen am Anfang des 20.
Jahrhunderts führten dazu, dass diese klare binäre Begriffsstruktur nicht
länger aufrecht erhalten werden konnte. Subjekt und Sein ließen sich angesichts
neuer Erfahrungen so nicht länger getrennt halten.
(to be done)